Achtung Spiekermann

Vor ein paar Wochen hatte ich hier nur den englischen Originaltext einer meiner Kolumnen in Blueprint wiedergegeben. Nun hat ein Kollege, Sebastian Keller, neulich spontan diesen Beitrag ins Deutsche gebracht. Sebastian betreibt ein Blog namens Schriftstellerwerden und ich hatte ihm einen Text geliefert. Es gibt also noch altmodische Tugenden wie Dankbarkeit und Höflichkeit. Hier nun Sebastians Übersetzung (nicht vergessen, dass der Text an ein englisches Publikum gerichtet ist):


Heutzutage werden auch Städte und Länder gebranded wie Waschpulver. Wenn ich etwas höre wie „London ist die kreative Hauptstadt Europas“ (oder war es „der Welt“?), ist das erste, was ich mich frage, ob es sich dabei um das Ergebnis objektiver Forschung, eine Erfindung der Boulevardpresse oder um eine Regierungskampagne handelt, die von steigender Inflation, den Immobilienpreisen, lebensgefährlichem Verkehr und gruseligem Wetter ablenken soll. Dennoch steckt ein Fünkchen Wahrheit darin. Ich lebe und arbeite in Berlin, San Francisco und London, und die britische Hauptstadt ist einfach anders.

Das Berlin von heute besteht aus vielen Städten: der alten Hauptstadt Preußens, Resten vom Nazi-Protz, Ruinen aus dem Krieg mit zugespachtelten Einschusslöchern an jeder Mauer, die noch steht, kapitalistischer Nachkriegs-Architektur im Westen und sozialistischen Planbauten im Osten, plus 20 Jahre Entwicklungen nach 1989. Eine Geschichte der Unterbrechungen. Niedrige Preise locken Künstler und Möchtegern-Künstler an, aber kaum Firmenzentralen oder Großunternehmen. Niemand in Berlin hat einen Job, aber jeder hat „Projekte“.

London, auf der anderen Seite, ist das Ergebnis jahrhundertelanger Kontinuität. Alles, was jemals auf den Britischen Inseln passiert ist, von den Römern bis in die Zeit des Empire, von den Nazi-Bomben bis zu Thatchers Hardcore-Kapitalismus, hat in dieser Stadt ihren Niederschlag gefunden. Wenn Sie bereit sind, es mit all den Unzulänglichkeiten wie Luftverschmutzung, chaotischem Verkehr und absurden Preisen aufzunehmen, leben Sie dafür in einem der Zentren des bekannten Universums. Wenn Sie in London überleben, kann Sie nichts mehr schocken. Es dort geschafft zu haben ist ein großer Boost für jedermanns Selbstvertrauen. Wenn ich durch die Straßen von Clerkenwell gehe (bzw. radle), stelle ich fest, dass das Durchschnittsalter der Leute um mich herum die Hälfte meines eigenen ist. Die Art und Weise, wie sie beschäftigt aussehen, während sie ihre iPhones tätscheln, ihre Mode, die ja nicht ausgesucht wirken soll und die Bars, Cafés und Restaurants, die sie häufig besuchen, weisen darauf hin, dass niemand mehr sein Geld mit körperlicher Arbeit verdient. Womit „unsichtbare Einkünfte“ als wichtigster Beitrag für die Wirtschaft übrig bleibt. Dieser Begriff wurde eigens für die City of London geprägt, wo Leute ihr Geld damit verdienen, dass sie über alles, was wächst, fließt oder eines Tages hergestellt werden könnte, Wetten mit dem Geld anderer Leute abschließen. Allerdings hat sich herausgestellt, dass die ‚Square Mile‘ mehr durch Gier als durch Know-how am laufen gehalten wurde und dass der Sex-Appeal zusammen mit den Bonuszahlungen verpufft ist.

Vorhang auf für die Kreativen! Wenn man jeden in dieser Kategorie steckt, der mit Film, Fernsehen, Verlagswesen, Werbung, Mode und Design zu tun hat, stellt man fest, dass diese Berufe niemanden in Gefahr bringen. Mit anderen Worten: wenn alle Kreativ-Unternehmen von heute auf morgen in Streik gehen würden, bekämen wir es erst einmal gar nicht mit. Es gäbe immer noch Strom, Brot und Beton. Die Züge würden immer noch fahren (was in Großbritannien schon ein Wunder für sich ist), die City-Maut würde immer noch durchgesetzt, Zeitungen würden gedruckt und Herzen transplantiert werden. Aber was wäre mit den Zeitungs-Features? Mit den Bildern? Mit den unterschiedlichen Headline-Stilen, dem charakteristische Look Ihrer Lieblingszeitschrift? Wenn Sie schon einmal in einem Land ohne Werbung gewesen sind (Ich habe lange ganz nahe an Ostdeutschland gelebt), haben Sie vielleicht bemerkt, wie dröge alles aussieht und wie Sie eine Sehnsucht nach Werbung entwickeln, und sei es die dümmste Waschpulver-Werbung.

Stellen Sie sich – nur für einen Moment – eine geschäftige Einkaufsstraße gänzlich ohne Werbung vor. Zunächst ein anziehender Gedanke, bis Sie erkennen, dass auch Neonschilder und Werbetafeln wichtige Informationen, Dekoration und vielleicht manchmal sogar Amüsement bieten. Und wer möchte schon zu den ungestalteten Objekten aus der Vergangenheit zurückkehren? Die ganze Komplexität der Technologie mag vielleicht zu unserem Besten vor uns versteckt werden müssen, aber das Aussehen und die Funktion von Oberflächen und Bedienelementen können nicht allein den Ingenieuren und Marketing-Menschen überlassen werden. Dinge können ohne Designer durchaus funktionieren, aber haben wir nicht einen Lustgewinn durch den Gebrauch von Objekten – sowohl körperlich als auch ästhetisch? Ohne Mode wären wir alle gezwungen das gleiche praktische Zeug, ‚Marke Mao‘ zu tragen. Für manche von uns und für eine Weile wahrscheinlich durchaus erfrischend, aber jeder weiß, wozu Frauen in der Lage sind, wenn sie eine Zeit lang keine neuen Schuhe kaufen können. Sie verstehen mich: Wir Kreativen retten keine Leben und die Menschheit würde weiter bestehen, auch wenn wir uns nicht einmischen.

Dennoch spielen wir tragende Rollen. Unsere erste Aufgabe ist es ohne Zweifel, die Glasur auf den Kuchen des Kapitalismus zu bringen. Die zweite könnte es sein, unsere einzigartigen Talente einzusetzen um tatsächlich reale Probleme zu lösen. Wir schaffen es, Gedanken, Ideen und Fragen zu visualisieren. Das ist eine ziemlich mächtige Gabe. Außerdem sind wir gesellig und das trotz iPhones, Telefonkonferenzen und Facebook. Je mehr kreatives Talent wir haben, desto mehr gewinnen wir hinzu. Wir haben keine Angst davor, uns in „dubiosen“ Bereichen zu tummeln. Wir mögen exotisches Essen, hängen mit interessanten Menschen aus fernen Ländern herum, hören uns seltsame Sounds an, lesen Material, das für Uneingeweihte unverständlich bleibt und sehen in jedem Fehler auch eine Chance. Wo könnte es einen besseren Lebensraum für so eine Spezies geben als in London? Ein Vorteil von Großbritanniens kolonialer Vergangenheit ist die Tatsache, dass in der halben Welt Englisch die Muttersprache ist, während die andere Hälfte es als Fremdsprache lernt. Viele kleinere Länder sind bereits zweisprachig. Versuchen Sie mal nebenbei Niederländisch oder Schwedisch zu lernen: unmöglich, denn man wird Ihnen dort immer auf Englisch antworten. Dennoch spricht man die Sprache nirgends so gut wie hier in Großbritannien. Wenn Sie die Mühe auf sich nehmen, eine andere Sprache zu lernen, werden Sie es schätzen lernen, dass es unterschiedliche Arten gibt, Sachverhalte zu sehen und sie auszudrücken. Und wenn Sie lernen könnten, ab und zu mit einem Augenzwinkern zu sprechen, dann könnte der Beitrag Londons zum kreativen Geschäft sogar noch größer sein. Und niemand bittet Sie Deutscher zu werden und tatsächlich etwas herzustellen.

6 comments

  1. Weshalb auch immer:

    … Wenn Sie schon einmal in einem Land ohne Werbung gewesen sind (Ich habe lange ganz nahe an Ostdeutschland gelebt), haben Sie vielleicht bemerkt, wie dröge alles aussieht und wie Sie eine Sehnsucht nach Werbung entwickeln, und sei es die dümmste Waschpulver-Werbung …

    Trotzdem sind die eindrucksvollsten Plakate bezüglich der graphischen Darstellung vom Bild immer wieder aus kommunistischen Ländern. Dort kann man offensichtlich noch richtig zeichnen.

  2. Curd

    Bei unserer Bildung ist das Schriftstellerwerden zur Nebensache geworden: ab dem Abitur ist man es, ob man’s kann oder nicht. Ausbildung bezüglich einzelner Qualitätstexte bekommt man nur von Privatanbietern wie ehedem Uwe Neumann über die Axel Andersson Akademie, die jetzt sogar den Namen böse eingebüßt hat. An der Uni lernt man nur noch Pseudohandwerk. Wer’s können möchte, sei angehalten, sich die absolut wenigen guten Lehrer zu suchen und nicht Dummyversitäten. Aber er muss auch wissen: Jobs bekommste [sic!] nur mit Uniabschluss. Können nicht nötig aber vermutet.

    Können ziemlich sicher, aber nicht vermutet und deshalb in Verweigerung bei der Jobsuche, wer Lehrer wie Uwe Neumann (Ausbildung in Werbetext & zum technischer Autor sind seine Domäne gewesen), Otto Schumann (Prosa, wissenschaftliches Manuskript), Sigmund Graff (Drehbuch fürs Theater), Curd Hanno Gutbrod (Drehbuch/Film), Franz-Schneider Facius (Texte für den Rundfunk) oder Dieter Breuer(Lyrik: Metrik und Verslehre) hatte, weil er klug die besten Lehrer suchte.

    Wer von Breuer unterrichtet worden ist, weiß auch darüber Bescheid, welch dummes Zeug sehr oft an öffentlichen Einrichtungen gelehrt wird.

    Fazit: Es wird noch schlimmer werden und nicht besser. 🙂

    1. Curd

      Ups, da scheint ein Spatium in die Krise geraten zu sein, hehe.

  3. Sandy Eberhart

    Interessantes Thema. Bin zwar nicht ganz deiner Meinung, aber das ist ja auch kein Diskussionsforum hier. Bleib am Ball.

  4. Jens

    Ich lebte in jenem „Land ohne Werbung“, das sich DDR nannte. Hier war die „Werbung“ (besser: „Agitation und Propaganda“) Parteipolitik. Meine Hypothesen: Im Osten Deutschlands ist bis heute die Ablehung von politisch-ideologischer Werbung deutlich höher.

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